Notizen von José-Daniel Martínez

Spricht man über die Volkslieder von Brahms, so steht im Zentrum der Aufmerksamkeit meist die wohlbekannte, 1894 veröffentlichte Sammlung von 49 Deutschen Volksliedern, welche heute mit der Nummer WoO 33 versehen ist. Chordirigenten bringen vielleicht die exquisiten Sammlungen WoO 34 und 35 (26 Lieder – veröffentlicht 1864, bzw. 1927!) für gemischten Chor hervor. Andere werden die Volks-Kinderlieder WoO 31 erwähnen, wobei sie diese unbewusst mit den WoO 33 assoziieren; abgesehen von der Tatsache, dass die Kinderlieder fast 4 Jahrzehnte vor dem WoO 33 veröffentlicht worden sind! Möglicherweise fehlen die folgenden Sammlungen in einem Gespräch: die Deutschen Volkslieder für Frauenensemble WoO 36-38 (48 Lieder - veröffentlicht 1938, 1964 und 1968), und die frühen 28 Deutschen Volkslieder WoO 32 für Singstimme und Klavier.

Diese letzte frühe Sammlung und die Volks-Kinderlieder sind Gegenstand unserer Aufnahme. Acht Kollegen vom Oberösterreichischen  Landesmusikschulwerk und ich zeigen, wie flexibel und unterschiedlich die Interpretation dieser Lieder sein kann.  Nur wenige Male werden zwei aufeinanderfolgende Tracks vom gleichen Sänger, bzw. der gleichen Sängerin gesungen. Das bietet einen frischen Kontrast von Timbres und Stimmlagen.  Eine geringe Anzahl von Aufnahmen der Volks-Kinderlieder ist erhältlich (entweder in ihrer Gesamtheit oder ausgewählte Lieder). Bis zu dem Moment, als dieser Text zum Druck bereit war, ergab eine Suche nach verfügbaren Aufnahmen der kompletten 28 DVL nur ein Ergebnis, alle von einem Sänger aufgenommen und im selben Jahr wie unsere produziert.   

Die zwei frühen Volksliedersammlungen stehen einander sehr nahe, dadurch, dass sie die Quellen für Text und Melodie gemeinsam haben (siehe unten), einen unkomplizierten Klavierpart besitzen und von Brahms in seinen Zwanzigern arrangiert worden sind. Die Kinderlieder wurden 1858 veröffentlicht und die 28 DVL, obwohl sie erst 1926 veröffentlicht wurden, sind Anfang 1858 zusammengestellt worden, 36 Jahre vor dem bekannten WoO 33. Fünfzehn Lieder aus WoO 33 wurden von Brahms bereits für das WoO 32 arrangiert – manche mit anderen Titeln und/ oder anderen Tonarten, und einige wenige mit ähnlichen Klavierstimmen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Melodie und Text von "Die Versuchung" WoO 32/19, in a-Moll tauchen in WoO 33/12 als "Feinsliebchen…", (bekannt unter Sopranistinnen) in h-Moll wieder auf. (Siehe auch WoO 37/7)

Ich möchte betonen, dass die bis zu diesem Punkt erwähnten Volkslieder Arrangements sind, die Brahms von bereits bestehendem Material gemacht hat. Er komponierte auch seine eigene Musik zu Volkstexten; man findet diese verstreut in seinem gesamten Vokalschaffen mit spezifischen Opusnummern: Lieder, Duette, Quartette, Werke für Chor a capella oder für Chor mit Kammerensemble – eine lebenslange Beschäftigung mit Volksmusik und -literatur.

Die frühe Volkslieder Sammlung, 1858 Clara Schumann übergeben, beinhaltete 32 Lieder, vier davon für vierstimmiges A-cappella-Ensemble, die anderen für eine Singstimme und Klavier. Die Sammlung blieb in den Händen der Schumann-Töchter bis Anfang der 1920-er Jahre und 1926 wurden sie endlich von der Deutschen Brahms-Gesellschaft und Max Friedlaender mit dem Titel "Neue Deutsche Volkslieder" veröffentlicht. Danach wurden die vier letzten Lieder der Volksliedsammlung für A-cappella-Chor WoO 35 hinzugefügt. Die verbleibenden 28 sind hauptsächlich den Forschern und Brahmshistorikern bekannt.  In den Sämtlichen Werken von Brahms (Breitkopf & Härtel) von 1926 erschienen sie in Band XXVI (dem vierten den Liedern gewidmeten Band) ganz am Ende in kleinerem Druck, als nachgelassene Werke beschrieben, aber noch immer ohne WoO 32 Angabe, welche ihnen später im Brahms Verzeichnis von Margit McCorkle zugeteilt wurde. Sie verdienen mehr Licht und Beachtung, da sie zeigen, wie sehr Brahms die Volksquellen schätzte und welch tiefer gehendes Wissen er darüber in seinen Zwanzigern besaß.

Im April 1858, schickte Brahms dem Herausgeber Rieter-Biedermann eine Sammlung von 14 Volks-Kinderliedern mit der dezidierten Anweisung, diese ohne seinen Namen zu drucken! Die Sammlung war den Kindern von Clara Schumann gewidmet, um die sich Brahms oftmals bei seinen Aufenthalten in Düsseldorf zwischen 1854 und 1857 gekümmert hatte. Die Zusammenstellung erblickte das Licht der Öffentlichkeit im November 1858 und anscheinend trugen die nachfolgenden Editionen erst nach Brahms´ Tod seinen Namen, außer einer Ausgabe von 1872 in Englisch. Einem Brief an Clara von 1893 folgend, konnte Brahms sich nicht mehr genau an das Entstehungsdatum der Lieder erinnern, er deutete aber an, dass einige davon noch aus der Zeit vor den Schumann Kindern stammen könnten. Drei von ihnen sind unter Sängern relativ bekannt: Sandmännchen, Marienwürmchen und Wiegenlied, da sie in einigen Gesangsanthologien für Studenten auftauchen (das letzte aber nicht zu verwechseln mit dem weltberühmten Wiegenlied Op. 49 von Brahms). In den Sämtlichen Werken von Brahms von 1926 erschienen die Volks-Kinderlieder in Band XXVI, aber ohne der ihnen später zugedachten Nummerierung als WoO 31.

Als Quelle sowohl für Text als auch Melodie diente Brahms für die 28 DVL und die Volks-Kinderlieder gleichermaßen die Sammlung von Andreas Kretzschmer und Anton Zuccalmaglio (K&Z) mit dem Titel Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen (1838-1840). Obwohl er viele andere Quellen ebenso gut kannte, war er sehr von diesen zwei Bänden von K&Z angetan. Bereits zu Brahms´ Lebzeiten hatten Forscher bezweifelt, dass einige dieser Melodien und Texte überhaupt "Originale" wären. Vielmehr erschien es so, dass K&Z sowohl ihre eigenen Erfindungen als auch Bearbeitungen von Melodien anderer vermeintlicher Volksmusikkomponisten als "authentische" Volksweisen getarnt hätten. Als man Brahms einmal mit dieser Tatsache konfrontierte, meinte er lapidar in einem Brief an Philipp Spitta: "Gut, so haben wir einen lieben Komponisten mehr…".

Wir haben alle Strophen aufgenommen, wie sie in Brahms´ Sämtlichen Werken veröffentlicht wurden, außer dem Lied Gunhilde (WoO 32/10), wo eine zusätzliche Strophe, die wir bei K&Z fanden, hinzugefügt wurde. Die 28 DVL betreffend, verdanken wir die Anzahl der gesungenen/gespielten Strophen Clara Schumann. Brahms schickte ihr die Manuskripte nur mit der ersten Strophe darin geschrieben und ersuchte sie, nicht nur den fehlenden Text zu ergänzen, sondern auch die Klavierstimme zu "verbessern", sollte sie dies für nötig erachten. Wenn man meint, Gunhildes elf Strophen seien schon zu viel, trotz ihrer Kürze, so sei nur soviel gesagt, dass das Lied Das Mädchen und der Tod in der Quelle von K&Z 19 Strophen hat…Clara hat nur vier eingefügt!

Die Volks-Kinderlieder CD beinhaltet ein Lied, welches Brahms nicht an seinen Verleger geschickt hatte. Das Originalmanuskript der Volks-Kinderlieder befindet sich in der Bodleian Library in Oxford. Dort, in Brahms´ eigener Handschrift, zwischen den Seiten mit Dornröschen als erstem Lied und Die Nachtigall als zweitem Lied, befindet sich Sommerlied (mit dem Text des bekannten Kinderreimes "Tra-ri-ro") ohne einer ihm zugedachten Nummer und mit Bleistift durchgestrichen. Es ist nicht klar, warum Brahms dieses Lied nicht veröffentlicht hat; es ist genauso gut, wie die anderen. Brahms schrieb nur eine Strophe des Textes. Wir haben dieses Lied erstmals aufgenommen, sogar mit vier Strophen, was der durchschnittlichen Länge des Textes, wie man es heutzutage in verschiedenen Quellen von Volkstexten findet, entspricht. Brahms' K&Z Quelle hatte sechs Strophen, die zwei letzten davon mit unregelmäßiger Länge. (Ein möglicher Grund zur Nichtveröffentlichung?)

Die Lieder dieser zwei CDs eignen sich vorzüglich als Gesangsunterrichtsmaterial und als Konzertrepertoire, sie können eine Hilfe sein für Gesangslehrer, Gesangsstudenten und ihre Pianisten, um aus den Liedern von Brahms jene für ihr Repertoire auszuwählen. Unsere Aufnahme kann auch der Erweiterung der Audioquellen für die Forschung an Schulen und Universitäten dienen. Sie können die CD-Sammlungen von Bibliotheken, diversen Institutionen und ebenso Haushalten bereichern.

Brahms frühe Volkslieder sind sehr flexibel und können einfach transponiert werden. Man sollte die Gelegenheit, sie zu singen, nicht ungenutzt lassen, nur weil die Lieder entweder zu tief oder zu hoch sind. Man darf nicht vergessen, dass es sich um Volkslieder handelt - Lieder für alle -! Die meisten Popsänger passen die Lieder, die sie singen wollen, ihrer Stimmlage an. Sänger des klassischen Liedes können das Gleiche machen. In der heutigen modernen Zeit, wo es uns möglich ist, per Knopfdruck am Keyboard oder Computer transponieren zu können, ist das durchschnittliche Publikum nicht so "tonartenbewußt" wie die Ausführenden es sein mögen. In der Brahms Biographie von Max Kalbeck findet man eine Erzählung des Sängers Anton Sistermann über eine Konversation mit Brahms, wo der Komponist das Thema Transposition ansprach. Brahms habe gesagt, dass "die Hauptsache sei, dass dem Sänger sein Stück bequem liege, und wäre es ihm ziemlich egal (bis zu einer gewissen Grenze natürlich), in welcher Tonart seine Lieder gesungen wurden". In unserer CD mit den 28 DVL sind elf Lieder transponiert worden; in der CD mit den Volks-Kinderliedern waren es fünf. Für die meisten Lieder der WoO 31 und 32 behielt Brahms die Tonarten von K&Z bei; aber wir finden einige dieser Lieder in anderen Sammlungen wie in WoO 33-38 in unterschiedlichen Tonarten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es reit ein Herr… WoO 32/28, in c-Moll, taucht in WoO 33 in es-Moll, wieder auf. In K&Z findet man dieses Lied in e-Moll.

Mit Ausnahme der üppigen Tageweis von einer schönen Frauen und des farbenfrohen Der Tochter Wunsch, sind die Klavierstimmen der meisten Lieder schlicht, jedoch passend für die Stimmung, die erzeugt werden soll.  Viele sind in der Art eines vierstimmigen Vokalensembles geschrieben, was nur einem Komponisten angemessen ist, der Zeit seines Lebens den Choralstil der Renaissance studiert und geschätzt hat und der nach 1858 eine äußerst fruchtbare Zeit mit dem Hamburger Frauenchor begann. Für diesen arrangierte er einige der gleichen Lieder, zum Beispiel: Drei Vögelein oder Schnitter Tod, und andere. Die zwei Versionen von Der getreue Eckart sind Übungen in einem "Neo-Renaissance" Kontrapunkt. Im Gegensatz dazu weisen Sandmännchen, Der Tote Gast und Nachtgesang den lyrischen Fluss einer Ballade auf. Liebeslied könnte nicht schöner sein! Die Heilige Elisabeth, Marienwürmchen, und Nachtgesang würden sicher auch sehr gut als Arrangements für Gitarre klingen. Es gäbe noch viel mehr darüber zu sagen, aber der Platz in diesem Booklet ist beschränkt und ich bin mir sicher, die Zuhörer werden selbst noch mehr finden. Für mehr Informationen zum Klavier verweise ich die Leserschaft auf zwei frühere CDs, wo ich die Klavierstimmen dieser Lieder als Klavierstücke aufgenommen habe.

Viele der Texte von Brahms´ Volksliedern beinhalten Erzählungen und Konversationen zwischen weiblichen und männlichen Charakteren. Ich bin der Meinung, dass wenn man Brahms singt, der Sänger eher der Erzähler der Geschichte ist und nicht eine Person, die am Geschehen teilnimmt: er/sie erzählt (singt) dem Publikum die Geschichte und nimmt dabei sowohl die Rolle des Erzählers als auch die der Charaktere ein, männliche und weibliche gleichermaßen. Merke: Musik für alle – diese Volkslieder sind nicht "gender-exklusiv". Dementsprechend wurde jedes Lied nur mit einer Singstimme aufgenommen, nicht wie mehrere Aufnahmen der 49 DVL wo zwei Sänger, männlich und weiblich, miteinander singen. Nichtsdestotrotz haben wir eine entsprechende Version mit Sopran und Tenor von Die Versuchung hinzugefügt.

Die Tempi, Rubati, Ritardandi und andere Phrasierungen sind die, die wir zum Zeitpunkt der Aufnahme als angemessen empfanden. (Man bemerke z.B. die zwei unterschiedlichen Tempi für Beim Ritt auf dem Knie WoO 32/18a und 18b. Diese haben wir absichtlich gewählt.) Die oben genannten Parameter werden immer von der persönlichen Interpretation abhängig sein. Für die, die damit nicht übereinstimmen, können diese CDs als Anstoß dienen, nach einer eigenen Interpretation zu suchen. Das Ergebnis wird das Gleiche sein: ein breiteres Wissen über die frühen Volkslieder von Brahms und mehr Erfahrung, um darüber zu sprechen.

Dr. José-Daniel Martínez http://www.martinez.at

Danksagung: Manfred Mitterbauer, Fachgruppenleiter für Stimme im Oberösterreichischen Landesmusikschulwerk, für seine Unterstützung dieses Projekts von Anfang an. Walter Rescheneder, Leiter der ­­­­­Oberösterreichischen Landesmusikdirektion, für die finanzielle Unterstützung. Erich Pintar, Tonmeister und Leiter des Studio Weinberg.

Übersetzung aus dem Englischen von Arabella Martínez