Notizen von José-Daniel
Martínez
Die
zwei frühen Volksliedersammlungen stehen einander sehr nahe, dadurch, dass sie
die Quellen für Text und Melodie gemeinsam haben (siehe unten), einen
unkomplizierten Klavierpart besitzen und von Brahms in seinen Zwanzigern
arrangiert worden sind. Die Kinderlieder
wurden 1858 veröffentlicht und die 28 DVL,
obwohl sie erst 1926 veröffentlicht wurden, sind Anfang 1858 zusammengestellt
worden, 36 Jahre vor dem bekannten WoO 33. Fünfzehn Lieder aus WoO 33 wurden
von Brahms bereits für das WoO 32 arrangiert – manche mit anderen Titeln und/
oder anderen Tonarten, und einige wenige mit ähnlichen Klavierstimmen. Um nur
ein Beispiel zu nennen: Melodie und Text von "Die Versuchung" WoO
32/19, in a-Moll tauchen in WoO 33/12 als "Feinsliebchen…", (bekannt
unter Sopranistinnen) in h-Moll wieder auf. (Siehe auch WoO 37/7)
Ich
möchte betonen, dass die bis zu diesem Punkt erwähnten Volkslieder
Arrangements sind, die Brahms von bereits bestehendem Material gemacht hat. Er
komponierte auch seine eigene Musik zu Volkstexten; man findet diese verstreut
in seinem gesamten Vokalschaffen mit spezifischen Opusnummern: Lieder, Duette,
Quartette, Werke für Chor a capella oder für Chor mit Kammerensemble – eine
lebenslange Beschäftigung mit Volksmusik und -literatur.
Die
frühe Volkslieder Sammlung, 1858 Clara Schumann übergeben, beinhaltete 32
Lieder, vier davon für vierstimmiges A-cappella-Ensemble, die anderen für eine
Singstimme und Klavier. Die Sammlung blieb in den Händen der Schumann-Töchter
bis Anfang der 1920-er Jahre und 1926 wurden sie endlich von der Deutschen
Brahms-Gesellschaft und Max Friedlaender mit dem Titel "Neue
Deutsche Volkslieder" veröffentlicht. Danach wurden die vier letzten
Lieder der Volksliedsammlung für A-cappella-Chor WoO 35 hinzugefügt. Die
verbleibenden 28 sind hauptsächlich den Forschern und Brahmshistorikern
bekannt. In den Sämtlichen
Werken von Brahms (Breitkopf & Härtel) von 1926 erschienen sie in Band
XXVI (dem vierten den Liedern gewidmeten Band) ganz am Ende in kleinerem Druck,
als nachgelassene Werke beschrieben, aber noch immer ohne
WoO 32 Angabe, welche ihnen später im Brahms
Verzeichnis von Margit McCorkle zugeteilt
wurde. Sie verdienen mehr Licht und Beachtung, da sie zeigen, wie sehr Brahms
die Volksquellen schätzte und welch tiefer gehendes Wissen er darüber in
seinen Zwanzigern besaß.
Im
April 1858, schickte Brahms dem Herausgeber Rieter-Biedermann eine Sammlung von
14 Volks-Kinderliedern mit der dezidierten Anweisung, diese ohne seinen Namen zu
drucken! Die Sammlung war den Kindern von Clara Schumann gewidmet, um die sich
Brahms oftmals bei seinen Aufenthalten in Düsseldorf zwischen 1854 und 1857 gekümmert
hatte. Die Zusammenstellung erblickte das Licht der Öffentlichkeit im November
1858 und anscheinend trugen die nachfolgenden Editionen erst nach Brahms´ Tod
seinen Namen, außer einer Ausgabe von 1872 in Englisch. Einem Brief an Clara
von 1893 folgend, konnte Brahms sich nicht mehr genau an das Entstehungsdatum
der Lieder erinnern, er deutete aber an, dass einige davon noch aus der Zeit vor den Schumann Kindern stammen könnten. Drei von ihnen
sind unter Sängern relativ bekannt: Sandmännchen,
Marienwürmchen und Wiegenlied,
da sie in einigen Gesangsanthologien für Studenten auftauchen (das letzte aber
nicht zu verwechseln mit dem weltberühmten Wiegenlied
Op. 49 von Brahms). In den Sämtlichen
Werken von Brahms von 1926 erschienen die Volks-Kinderlieder
in Band XXVI, aber ohne der ihnen später zugedachten Nummerierung als WoO 31.
Als
Quelle sowohl für Text als auch Melodie diente Brahms für die 28
DVL und die Volks-Kinderlieder
gleichermaßen die Sammlung von Andreas Kretzschmer und Anton Zuccalmaglio
(K&Z) mit dem Titel Deutsche
Volkslieder mit ihren Original-Weisen (1838-1840). Obwohl er viele andere
Quellen ebenso gut kannte, war er sehr von diesen zwei Bänden von K&Z
angetan. Bereits zu Brahms´ Lebzeiten hatten Forscher bezweifelt, dass einige
dieser Melodien und Texte überhaupt "Originale" wären. Vielmehr
erschien es so, dass K&Z sowohl ihre eigenen Erfindungen als auch
Bearbeitungen von Melodien anderer vermeintlicher Volksmusikkomponisten als
"authentische" Volksweisen getarnt hätten. Als man Brahms einmal mit
dieser Tatsache konfrontierte, meinte er lapidar in
einem Brief an Philipp Spitta: "Gut, so haben wir einen lieben Komponisten
mehr…".
Wir
haben alle Strophen aufgenommen, wie sie in Brahms´
Sämtlichen Werken veröffentlicht wurden, außer dem Lied Gunhilde
(WoO 32/10), wo eine zusätzliche Strophe,
die wir bei K&Z fanden, hinzugefügt wurde. Die
28 DVL betreffend, verdanken wir die
Anzahl der gesungenen/gespielten Strophen Clara Schumann. Brahms schickte ihr
die Manuskripte nur mit der ersten Strophe darin geschrieben und ersuchte sie,
nicht nur den fehlenden Text zu ergänzen, sondern auch die Klavierstimme zu
"verbessern", sollte sie dies für nötig erachten. Wenn man meint, Gunhildes
elf Strophen seien schon zu viel, trotz ihrer Kürze, so sei nur soviel gesagt,
dass das Lied Das Mädchen und der Tod
in der Quelle von K&Z 19 Strophen hat…Clara hat nur vier eingefügt!
Die
Volks-Kinderlieder CD beinhaltet ein Lied, welches Brahms nicht an seinen
Verleger geschickt hatte. Das Originalmanuskript der Volks-Kinderlieder befindet
sich in der Bodleian Library in Oxford. Dort, in Brahms´ eigener Handschrift,
zwischen den Seiten mit Dornröschen
als erstem Lied und Die Nachtigall als
zweitem Lied, befindet sich Sommerlied
(mit dem Text des bekannten Kinderreimes "Tra-ri-ro") ohne einer ihm
zugedachten Nummer und mit Bleistift durchgestrichen. Es ist nicht klar, warum
Brahms dieses Lied nicht veröffentlicht hat; es ist genauso gut, wie die
anderen. Brahms schrieb nur eine Strophe des Textes. Wir haben dieses Lied
erstmals aufgenommen, sogar mit vier Strophen, was der durchschnittlichen Länge
des Textes, wie man es heutzutage in verschiedenen Quellen von Volkstexten
findet, entspricht. Brahms' K&Z Quelle hatte sechs Strophen, die zwei
letzten davon mit unregelmäßiger Länge. (Ein möglicher Grund zur Nichtveröffentlichung?)
Die
Lieder dieser zwei CDs eignen sich vorzüglich als Gesangsunterrichtsmaterial
und als Konzertrepertoire, sie können eine Hilfe sein für Gesangslehrer,
Gesangsstudenten und ihre Pianisten, um aus den Liedern von Brahms jene für ihr
Repertoire auszuwählen. Unsere Aufnahme kann auch der Erweiterung der
Audioquellen für die Forschung an Schulen und Universitäten dienen. Sie können
die CD-Sammlungen von Bibliotheken, diversen Institutionen und ebenso Haushalten
bereichern.
Brahms
frühe Volkslieder sind sehr flexibel und können einfach transponiert werden.
Man sollte die Gelegenheit, sie zu singen, nicht ungenutzt lassen, nur weil die
Lieder entweder zu tief oder zu hoch sind. Man darf nicht vergessen, dass es
sich um Volkslieder handelt - Lieder für alle -! Die meisten Popsänger passen
die Lieder, die sie singen wollen, ihrer Stimmlage an. Sänger des klassischen
Liedes können das Gleiche machen. In der heutigen modernen Zeit, wo es uns möglich
ist, per Knopfdruck am Keyboard oder Computer transponieren zu können, ist das
durchschnittliche Publikum nicht so "tonartenbewußt" wie die Ausführenden
es sein mögen. In der Brahms Biographie von Max Kalbeck findet man eine Erzählung
des Sängers Anton Sistermann über eine Konversation mit Brahms, wo der
Komponist das Thema Transposition ansprach. Brahms habe gesagt, dass
"die Hauptsache sei, dass dem Sänger sein Stück bequem liege, und wäre
es ihm ziemlich egal (bis zu einer gewissen Grenze natürlich), in welcher
Tonart seine Lieder gesungen wurden". In
unserer CD mit den 28 DVL sind elf Lieder transponiert worden; in der CD mit den Volks-Kinderliedern
waren es fünf. Für die meisten Lieder der WoO 31 und 32 behielt Brahms die
Tonarten von K&Z bei; aber wir finden einige dieser Lieder in anderen
Sammlungen wie in WoO 33-38 in unterschiedlichen Tonarten. Um nur ein Beispiel
zu nennen: Es reit ein Herr… WoO
32/28, in c-Moll, taucht in WoO 33 in es-Moll, wieder auf. In K&Z findet man
dieses Lied in e-Moll.
Mit
Ausnahme der üppigen Tageweis von einer
schönen Frauen und des farbenfrohen Der
Tochter Wunsch, sind die Klavierstimmen der meisten Lieder schlicht, jedoch
passend für die Stimmung, die erzeugt werden soll.
Viele sind in der Art eines vierstimmigen Vokalensembles geschrieben, was
nur einem Komponisten angemessen ist, der Zeit seines Lebens den Choralstil der
Renaissance studiert und geschätzt hat und der nach 1858 eine äußerst
fruchtbare Zeit mit dem Hamburger Frauenchor begann. Für diesen arrangierte er
einige der gleichen Lieder, zum Beispiel: Drei
Vögelein oder Schnitter Tod, und
andere. Die zwei Versionen von Der getreue
Eckart sind Übungen in einem "Neo-Renaissance" Kontrapunkt. Im
Gegensatz dazu weisen Sandmännchen, Der
Tote Gast und Nachtgesang den
lyrischen Fluss einer Ballade auf. Liebeslied
könnte nicht schöner sein! Die Heilige
Elisabeth, Marienwürmchen, und Nachtgesang würden sicher auch sehr gut als Arrangements für
Gitarre klingen. Es gäbe noch viel mehr darüber zu sagen, aber der Platz in
diesem Booklet ist beschränkt und ich bin mir sicher, die Zuhörer werden
selbst noch mehr finden. Für mehr Informationen zum Klavier verweise ich die
Leserschaft auf zwei frühere CDs, wo ich die Klavierstimmen dieser Lieder als
Klavierstücke aufgenommen habe.
Viele
der Texte von Brahms´ Volksliedern beinhalten Erzählungen und Konversationen
zwischen weiblichen und männlichen Charakteren. Ich bin der Meinung, dass wenn
man Brahms singt, der Sänger eher der Erzähler der Geschichte ist und nicht
eine Person, die am Geschehen teilnimmt: er/sie erzählt (singt) dem Publikum
die Geschichte und nimmt dabei sowohl die Rolle des Erzählers als auch die der
Charaktere ein, männliche und weibliche gleichermaßen. Merke: Musik für alle
– diese Volkslieder sind nicht "gender-exklusiv". Dementsprechend
wurde jedes Lied nur mit einer Singstimme aufgenommen, nicht wie mehrere
Aufnahmen der 49 DVL wo zwei Sänger,
männlich und weiblich, miteinander singen. Nichtsdestotrotz haben wir eine
entsprechende Version mit Sopran und Tenor von Die
Versuchung hinzugefügt.
Die
Tempi, Rubati, Ritardandi und andere Phrasierungen sind die, die wir zum
Zeitpunkt der Aufnahme als angemessen empfanden. (Man bemerke z.B. die zwei
unterschiedlichen Tempi für Beim Ritt
auf dem Knie WoO 32/18a und 18b. Diese haben
wir absichtlich gewählt.) Die oben genannten Parameter
werden immer von der persönlichen Interpretation abhängig sein. Für die, die
damit nicht übereinstimmen, können diese CDs als Anstoß dienen, nach einer
eigenen Interpretation zu suchen. Das Ergebnis wird das Gleiche sein: ein
breiteres Wissen über die frühen Volkslieder von Brahms und mehr Erfahrung, um
darüber zu sprechen.
Dr.
José-Daniel Martínez http://www.martinez.at
Danksagung: Manfred Mitterbauer, Fachgruppenleiter für Stimme im Oberösterreichischen Landesmusikschulwerk, für seine Unterstützung dieses Projekts von Anfang an. Walter Rescheneder, Leiter der Oberösterreichischen Landesmusikdirektion, für die finanzielle Unterstützung. Erich Pintar, Tonmeister und Leiter des Studio Weinberg. |
Übersetzung aus dem Englischen von Arabella Martínez